Transformation ist der Normalzustand

Rede des Fraktionsvorsitzenden der FDP Hanau zum Kauf der Brachmann-Immobilie und Übernahme des Interimsbetrieb.

Sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin, werte Kolleginnen und Kollegen,

Übergriffig, anmaßend, illiberal, unlauter, wettbewerbsverzerrend, allmächtig – man kann hier den ganz großen Bogen spannen, argumentieren, dass sowohl der Kauf der Immobilie als auch das Betreiben von Spielwarengeschäften die Büchse der Pandora öffnen und den Weg des Privaten in eine Knechtschaft des Staates ebnen – so etwas verursacht bei Liberalen im Normalfall Schnappatmung – oder aber wir steigen vom ideologischen Hochsitz herab und begeben uns auf den Boden der Tatsachen. Dann werden wir nichts anderes vorfinden als vernunftgetriebenen Pragmatismus, den Willen zur Hilfe, Chancen und auch eine ordentliche Portion Mut.

Vieles, was in den letzten Tagen an Kritik bei der offensichtlich neuen Rollenverteilung von Stadt und freier Marktwirtschaft angebracht wurde, scheint auf den ersten Blick berechtigt und richtig. Aber jeder, der außerhalb seiner politischen Blase oder Staatsdienerschaft die Luft der realen Marktwirtschaft geatmet hat, weiß, dass gerade in einer Marktwirtschaft Ideen immer stärker sind als Ideologien. Denn es sind die Ideen, die Dinge möglich machen. Das wussten offensichtlich auch die Mitglieder der Lenkungsgruppe Handel, also Kaufleute, die diesen Kauf uneingeschränkt gut hießen und darin nicht den Untergang des Abendlandes sahen. Sie sehen keine Konkurrenz oder unlauteren Wettbewerb durch die zeitlich limitierte Übernahme der Geschäfte, denn sie wissen genau, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer ist. Sie untersagen ihm aber auch nicht unternehmerisch zu denken -und das ist der Unterschied.

„Alles Leben ist Problemlösen“ wusste schon Karl Popper. Er regte an, das ideologische Prinzip des freien Marktes, durch ein anderes zu ersetzen: Sein Prinzip des Marktes schlägt vor, die Freiheit nur dort zu beschränken, wo es aus dringenden Gründen notwendig ist. Die Notwendigkeit ist also die rote Linie, denn sie erkennt an, dass es hier und da etwas Management braucht, sonst würden wir entspannt zuschauen, dass alles vor die Hunde geht, mit der beruhigenden Gewissheit, dass schon irgendwann etwas Besseres folgen wird. Die Frage ist nur wie lange das dauert. Und was wir alles auf dem Weg dorthin verlieren.

Wenn also alles Leben Problemlösen ist, erschließt es sich mir nicht, warum das nicht auch für Kommunen gelten soll. Im vorliegenden Fall haben wir mit einem allgemein bekannten Problem zu tun: Leerstand ist ansteckend. Er ist der Brandbeschleuniger in einer ohnehin schon stattfindenden Transformation, die durch die Corona Pandemie zusätzlich befeuert wurde. Dem gelernten No-Brainer immer weiter steigenden Mieten für Handelsflächen in Toplagen und sprudelnden Gewerbesteuereinnahmen geht zunehmend der Sauerstoff aus. Vor diesem sich abzeichnenden Hirntod muss man als Stadt eingreifen. Das ist politische Raison und auch die Erwartung der Bürgerinnen und Bürger.

Drehen wir das städtische Mikroskop auf das nächste Okular, entdecken wir, dass die Rosenstraße die Verkörperung der romantisierten Vorstellung von Handel darstellt: Fachgeschäfte, bei denen die Namen derer über der Tür hängen, die im Inneren Waren, Dienstleistungen und Beratungskompetenz bieten. Schlendernde Menschen jeden Alters, die flanieren, Eis essen, Kaffeetrinken, Haare schneiden lassen oder eben Shoppen gehen. Der berühmte Stadtplaner Jan Gehl nutzte einst die Zahl der Menschen, vor allem der Kinder, im Straßenbild als Indikator für die Funktion einer Stadt als Ort der Begegnung. Je mehr desto besser. Und der menschliche Maßstab entscheidet über das weitere Schicksal. Demnach hätten wir nie die Autos in die Städte lassen dürfen. Wir haben es aber getan, weil eine lebendige Innenstadt kein Ziel ist, sondern ein Prozess. Es braucht Experimente.

Vereinfachung und Festklammern an den Status quo sind dabei selten erfolgsversprechend – nur weil etwas lange da war, ist es noch kein Grund, es um jeden Preis zu erhalten. Das gilt auch für das Standard-Stadtmodell mit Shoppingcenter, Fußgängerzone, Tiefgaragen, Systemgastronomie und Bürogebäuden, das offensichtlich an seine Grenzen gekommen zu sein scheint – übrigens genauso wie die überholte Vorstellung der autogerechten Stadt. Je kleiner die Städte, desto deutlicher ist hier der Befund.

Und die Folgen sind absehbar: viele kleine Händler in Fußgängerzonen und Einkaufszentren werden vermutlich in den kommenden Jahren verschwinden – wegen der sich verändernden Bedürfnisse, der Online-Konkurrenz und hohen Mieten. Das ist bedauerlich und wäre nur mit sehr viel Aufwand zu verhindern oder zu verlangsamen. Erst geraten die Mieter unter Druck, dann die Vermieter und in der Folge die gesamte Unternehmung Stadt. Auch das ist am Ende des Tages Markt. Der Markt regelt vieles, aber nicht alles. Und nicht immer im Interesse einer Stadtgesellschaft oder der gebotenen Geschwindigkeit. Für die Interessendurchsetzung der Stadtgesellschaft ist die Politik gefragt: Und Politik bedeutet nicht mit grandiosen Ist-Analysen vom Beckenrand aus zuzusehen wie jemand ertrinkt, sondern entschlossen ins kalte Wasser zu springen und das Unglück zu verhindern. Der gute Bademeister ist nämlich immer noch der, der sich gar nicht erst nass macht, weil er die Gefahren schon vorher erkennt und sie abwendet. Im Fall Brachmann ist exakt das der Fall. Man ist weit weg vom Ertrinken, man will aber das nächste Ufer erreichen – ohne Baden zu gehen. Dass die Stadt dabei kurzfristig den Betrieb mit übernimmt, ist Vorsorge und Fürsorge, keine Grenzüberschreitung. Es ist eine gut abgewogene Zwischenlösung und kein Präzedenzfall, denn auch in diesem Haus ist es Konsens, dass der Staat nicht der bessere Unternehmer sein darf und natürlich auch nicht sein kann. Und darauf werden wir auch achten.

Eine Wettbewerbsverzerrung ist bei marktüblichen Kauf- und Mietpreisen auch nicht zu erkennen. Und vielen von uns dürfte die Fantasie fehlen wie bei der aktuellen Wertentwicklung der Immobilien in der Rhein-Main Region hier größere Gefahren auf die Stadt als Eigentümerin zukommen sollen.

Das Eigentum an dieser Stelle ist aber eine große Chance. Und ein Zeitgewinn. Denn jetzt können wir als Kurator tätig werden und ohne übermäßigen Druck überlegen wie es hier weitergehen soll. Welches Konzept kann zielführend sein?

Durchatmen, analysieren, reflektieren und Gewissheit erlangen:

Transformation ist kein Grund zur Panik, sondern der Normalzustand.

Innenstädte erleben jetzt, was Industriebrachen schon seit 30 Jahren erleben. Ganze Industrieareale werden umgebaut und zu neuen Quartieren für Wohnen, Arbeiten, Kultur und Tourismus umgewidmet. Die neue Stadt lässt nach der strikten Trennung der Nutzungen jetzt wieder alles zusammenkommen, was den Menschen ermöglicht, Mensch zu sein: Wohnen, Arbeiten, Essengehen, Flanieren, Lernen, Einkaufen und zu allererst Begegnung. Das ist der Sinn von Stadt. Und dies zu gewährleisten, die Aufgabe der Politik. Klingt doch toll. Und natürlich sind wir als Liberale da dabei. Was denn sonst?