Grundrechte und Mündigkeit in Zeiten von Corona

Für die Demokratie sind Krisenzeiten wie die momentane Corona-Krise ein Stresstest. Der Demokratie liegt die Vorstellung zugrunde, dass es einen untrennbaren Zusammenhang zwischen der durch sie legitimierten Staatsgewalt und einem großen Teil unserer Bürger- und Menschenrechten geben muss. Als quasi Notausschalter hat sich unsere Demokratie in ihre Bedienungsanleitung, das Grundgesetz, geschrieben, dass die Rechte des einzelnen auch gegen die Staatsmacht durchgesetzt werden können. Zu diesen Rechten zählen Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Berufsfreiheit und viele mehr. Die Ausbreitung des Coronavirus in Europa und Deutschland hat zu beträchtlichen Einschränkungen dieser Rechte und unseres freiheitlichen Miteinanders geführt, die noch zu Jahresbeginn unvorstellbar gewesen wären: Ausgangsbeschränkungen, Schließungen von Schulen, Geschäften und Behörden streichen diese gewonnenen und geschützten Freiheiten zeitweise ersatzlos. Die Funktionsfähigkeit der Gerichte, bei denen sich die Bürgerinnen und Bürger über solche Maßnahmen beschweren könnten, ist ebenso eingeschränkt wie die Möglichkeit, dagegen zu protestieren. Die Bürger haben ihre Freiheit und Mündigkeit gegen vermeintliche Sicherheit tauschen müssen.

Es herrscht in weiten Teilen Einigkeit, dass die aktuellen Maßnahmen in ihrer Striktheit notwendig sind, um die Ausbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Gleichzeitig muss aus ökonomischen und aus freiheitsrechtlichen Motiven über den Masterplan in ein „Zurück“ nachgedacht werden, wenn es medizinisch zu rechtfertigen ist. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und das „Gebot des mildesten Mittels“ müssen permanente Begleiter aller Entscheidungen sein. Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, warnte in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung vor einer „Erosion des Rechtsstaats“, sollten sich die „extremen Eingriffe in die Freiheit aller“ noch lange hinziehen. Deswegen dürfen alle bereits getroffenen und noch zu treffenden Maßnahmen, zum Beispiel über Apps, die Bewegungsdaten speichern, den freiheitlichen Charakter westlicher und europäischer Demokratien nicht nachhaltig beschädigen.

Der Philosoph Immanuel Kant beschrieb die Aufklärung als den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. In diesem Zusammenhang irritiert es sehr, dass sich heute viele Menschen offensichtlich in der Situation eines übermächtigen Staates ausgesprochen wohl fühlen. Wer andere für sich denken lässt und sein Handeln daran anpasst, geht kein Risiko ein. Sein Verhalten wird momentan sogar ausdrücklich gutgeheißen. Wir müssen aber aufpassen, dass die errungene Mündigkeit nicht auf der Strecke bleibt, denn sie bedeutet Selbstständigkeit und Selbstverantwortung, den unbedingten Willen zum Selbst-Denken und den verfassungsgemäß legitimierten Mut zum Risiko. Die Corona-Krise zeigt in brutaler Härte die Abhängigkeit des Einzelnen von gemeinschaftlichen Institutionen. Sie erfordert ein Maximum an Selbstverantwortung und zugleich drastische kollektive Regeln, die tief in die individuelle Freiheit eingreifen. Und sie führt uns vor Augen, dass die gleiche Freiheit aller in komplexen Gesellschaften eben nicht nur gegen staatliche Gängelung verteidigt, sondern durch den Staat geschützt werden muss. Die Demokratie muss ein atmendes System bleiben, dass jedem die maximale Freiheit zur jeweiligen Lebenssituation einräumt und ihm gleichzeitig die Garantie für sein Überleben geben. Das ergibt eine neue Matrix für den freiheitlichen Staat. Er muss stark und leistungsfähig sein, um Garantien zuzusichern aber gleichzeitig seine Grenzen kennen, wo er in die Freiheit des Einzelnen eingreift.