Zur Veranstaltung „Zurück zu den Fakten“ zu den Morden des 19. Februar

02.02.2023

Am Samstag, den 28. Januar hatte die FDP Hanau den Vizepräsidenten des Hessischen Landtags und Mitglied des Untersuchungsausschusses zu den Morden des 19. Februar in Hanau, Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn eingeladen, um über den Stand der Erkenntnisse im Ausschuss zu berichten. Aufgrund der Berichterstattung im Hanauer Anzeiger hatten uns mehrere Gäste der Veranstaltung empört kontaktiert, ob es eine weitere Veranstaltung gab, da sie zu grundsätzlich anderen Eindrücken gelangten als die Redakteurin des Hanauer Anzeigers. Aus diesem Grund veröffentlichen wir noch einmal die Begrüßung des Hanauer FDP Vorsitzenden, Henrik Statz, die den Geist der Veranstaltung beschreibt. Die Einleitung wurde in der Berichterstattung ebenfalls ausgeklammert.

Warum machen wir so eine Veranstaltung? Warum geben wir keine Ruhe? Ist denn nicht schon alles mehrfach gesagt, nicht alles offengelegt? Ich fürchte nein. Und auch heute werden wir es nicht schaffen alle Fragen zu beantworten. Unser Ziel für heute ist es aber völlig meinungs- und deutungsbefreit das auf den Tisch zu legen, was wir wissen. Alles abzuscheiden, was nicht Fakt ist. Wenn es die Ermittlungsbehörden nicht geschafft haben, hätte ich mir von der Presse eine faktenbasierte Berichterstattung erhofft. Aber auch hier haben sich zu viele von Anfang an mehr um Meinung als um Darlegung der Fakten bemüht. Nur ist aber die hochriskante Vermischung von Journalismus und Aktivismus ein Thema für sich, das es an anderer Stelle zu diskutieren lohnt.

Es war ein bitterkalter Abend. Trotz der Kälte und des Nebels, der sich über den Damm hinweg auf die Mainwiesen am Kinzdorf legte, hatte ich bereits große Lust auf den nahenden Frühling. Wir trafen uns mit den Mitgliedern der damaligen Stadtverordnetenfraktion und Teilen unseres Vorstands in der Steuerberatungskanzlei von Hans-Volker Lill, unserem ehemaligen Haushaltspolitischen Sprecher, um uns die Zahlen der Stadt Hanau für den Doppelhaushalt 2020/2021 genauer anzusehen. Die Stimmung war gut und es fand wie bei uns nicht unüblich ein gleichermaßen konstruktiver und
humorvoller Austausch statt. Die gute Stimmung nahmen wir mit und beschlossen in der benachbarten Ruderei nach der Sitzung gemeinsam ein Bier trinken zu gehen, bevor uns die Wege trennen sollten. Es dürfte noch vor 21 Uhr gewesen sein, als ich von der Konrad Adenauer Straße kommend, links auf die Philippsruher Allee abbog und dann über die Burgallee weiter in Richtung nach Hause fuhr.

Spätestens gegen 23 Uhr war der ständig über Hanau stehende Polizeihubschrauber nicht mehr zu überhören und erste Meldungen zu einer Schießerei in der Hanauer Innenstadt machten in Nachrichtenportalen die Runde bis zuerst die Seite von Vorsprung Online nicht mehr zu erreichen war. Ein in Kesselstadt wohnender Freund berichtete, dass permanent Polizei an seinem Haus vorbeifahren würde. Gegen 0.00 Uhr erreichte uns die Info, dass wohl nicht nur am Hanauer Heumarkt, sondern auch in Kesselstadt und sogar im Lamboy Schüsse gefallen wären.

Ein befreundeter Fotojournalist berichtete in einer Whatsapp-Sprachnachricht von angeblich vier oder fünf Tatorten in der Stadt und von bis zu acht Todesopfern. Die Polizisten seien in voller Schutzmontur wie bei einem Anti-Terroreinsatz unterwegs und wären immer noch dabei, sich in der unübersichtlichen Lage einen Überblick zu verschaffen. Er war gerade auf dem Weg vom Heumarkt zum Kurt-Schuhmacher Platz. Hier hieß es, wäre ein zweiter Tatort und von einem weiteren Tatort in der Kastanienallee war ebenfalls die Rede. Die Pressestelle des Polizeipräsidiums in Offenbach hatte seiner Aussage nach noch keine Lage und blieb noch still. Erstmalig hörte ich in der Nacht das Wort Amoklauf. Um 0.23 Uhr bekamen wir ein Video von einem Polizeieinsatz auf der Lamboystraße weitergeleitet, das vermeintlich gerade aufgenommen wurde und viral ging. Gerüchte von Tatorten in Bruchköbel und Dörnigheim machten außerdem die Runde. Gegen 1 Uhr gab es die vorläufige Gewissheit, dass es nur zwei Tatorte in der Stadt gab, am Heumarkt und am Kurt-Schuhmacher-Platz. Was das Motiv für diese Tat war, schien für alle völlig unübersichtlich. An einen rassistisch motivierten Amoklauf dachte von uns zu diesem Zeitpunkt vermutlich niemand. Wir fanden ein paar Stunden Schlaf und wachten in einer anderen Welt auf.

Am frühen Morgen gegen 6 Uhr las ich, dass in der Nacht Mitarbeiter des SEK beobachtet wurden, die sich auf eine Stürmung vorbereiteten, um 6.42 Uhr bekam ich den Link von einem Bericht der Bildzeitung zugeschickt, kurz darauf den Link zum Presseportal, wonach der mutmaßliche Täter und eine weitere Person tot in der Wohnung vorgefunden worden sein. Auch der Name des mutmaßlichen Täters machte bereits die Runde und Geschichten, wer mit ihm wann in der Grundschule, im Sportverein oder im Abiturjahrgang befreundet war. In Hanau kennt man sich und die Wege sind kurz. Das war alles noch vor der offiziellen Pressekonferenz im CPH um 11 Uhr. Als Vorsitzender des Fördervereins der Hohen Landesschule und ehemaliger Schüler, der zwei Jahre vor dem Täter Abitur machte, ihn aber nicht kannte, rief ich den kommissarischen Schulleiter der Hola, um ihn frühzeitig zu informieren, dass der mutmaßliche Attentäter ein ehemaliger Mitschüler gewesen sein müsste. Noch verneinte er die Vermutung, man habe das in den Akten geprüft. Gegen 12 Uhr nahm er diese Behauptung zurück, da saßen ihm bereits Journalisten von Spiegel TV und Beamte des Bundeskriminalamts gegenüber.

Die nächsten Tage vergingen wie in Trance. An einen Alltag war nicht zu denken. Und dabei hatte ich in Hanau nicht einmal ein Mandat. Wie bei den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 wird jeder Hanauer bis ans Ende seines Lebens sich erinnern, wo er war als er von den Morden erfahren hat. Ich hatte im Grunde nichts mit den Aktivitäten in der Stadt zu tun und war trotzdem den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigt. Im Kopf, im Herzen und mit allem, was ich tat. Ich wäre aber auch emotional zu nichts anderem im Stande gewesen.

Das größte Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem zweiten Weltkrieg auf Hanauer Boden hat neben dem bitteren und irrsinnigen Verlust von Menschenleben weitere unschöne Dinge hervorgebracht. Im persönlichen Rückblick kann ich vieles nicht anders als schändlich betrachten. Ich dachte, dass es der Anstand bietet, eine solche Tat weder politisch zu kapern noch ein Momentum zu nutzen, um sein Fähnchen für Populismus in den Wind zu hängen, doch es wurde und wird bis heute getan und mir wird immer noch genauso schlecht dabei wie am ersten Tag.

Ein rassistisch motivierter Anschlag in Hanau, ausgerechnet hier. Das kann und will ich bis heute nicht verstehen. Aber wir hatten am vergangenen Montag den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Kubicki in Hanau zu Gast, der von einer Studie des Sinus Instituts berichtete, nach der etwa 13 Prozent der Deutschen über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügten. Etwa jeder zweite in dieser Gruppe befand auch Gewalt als ein probates Mittel, um dieses durchzusetzen. Weitere 37 Prozent seien zwar gegen Antisemitismus, Militarismus und Führerkult immun, aber seien dennoch empfänglich für „rechtsextreme Denkinhalte. Diese Studie ist von 1981 und politische Großwetterlagen geben traurigen Anlass zur Vermutung, dass diese Baustelle nicht kleiner geworden ist.

In meiner Heimatstadt Hanau hatte ich den Eindruck, dass wir mit dem vergleichsweise hohen Migrationsanteil ein gutes Miteinander haben und das es für die Hanauerinnen und Hanauer im Grundsatz weniger zählt, woher jemand kommt, sondern wohin jemand will. Deswegen traf uns alle diese Tat wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Dieses Gefühl teilte auch Jürgen Fehler von der Hanauer Polizei als wir das erste mal miteinander sprachen. Vielleicht lügt man sich aber aus seiner eigenen Wahrnehmung gerne in die Tasche. Denn auch, wenn wir keine andere glaubwürdige Geschichte kennen,
dass die Tat das Werk eines Einzelnen war und sich im Grunde überall in der Welt hätte abspielen können, waren die Tatorte in unserer Heimatstadt Hanau. Und die Tat wird für immer mit Hanau und uns allen verwoben sein. Man muss aber auch feststellen, dass ein Einzeltäter seine Motive nicht im luftleeren Raum entwickelt und wir müssen uns eingestehen, dass das Gift unter uns ist. Dieses Gift zu bekämpfen, ist zu einer Erbverantwortung für alle Hanauerinnen und Hanauer geworden – auch, wenn es vielen schon wieder zu viel Erinnerung, Mahnen und Gedenken ist. Das ist vermutlich ebenfalls
menschlich, darf aber keine Rolle werden. Gedenken muss weh tun.

Ich kann die Wut, die Trauer und Verzweiflung der Angehörigen soweit verstehen und nachfühlen wie es für einen nicht persönlich Betroffenen möglich ist. Erst recht, wenn erst im Nachhinein Dinge an die Öffentlichkeit gelangen, die Fragen aufwerfen. Der Notruf, der Notausgang, der Rahmen der Übermittlung der Todesnachricht an die Angehörigen von Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. All das löst Gefühle aus, die wir in den Treffen zur Diskussion um das Mahnmal und dessen
Standort am eigenen Leib erfahren mussten. Verbitterung, Wut und sogar das Wort Hass auf Deutschland ist hier gefallen.
Es gilt aufzuarbeiten, zu untersuchen und neutral zu bewerten und nicht wie unser Bundesjustizminister Marco Buschmann aus der Ferne einfach mal so von Staatsversagen zu sprechen. Das sind große Worte, die uns aber keinen Millimeter weiterbringen. Und natürlich auch nicht die Angehörigen, denen man um die immer wieder aufflammende Debatte jede Chance einer Trauerarbeit nimmt. Und nun steht der Jahrestag wieder bevor. Und mit ihm erneut die Fragen und das Rangeln um die Meinungshoheit. Und meine Sorge, dass die neue Diskussion wieder niemandem gerecht wird. Zuletzt den Opfern und ihren Angehörigen, für die es keine Wiedergutmachung geben kann. Denn der Staat und die Gemeinschaft
konnten nicht die Menschen schützen, die sie geliebt haben und nun unwiederbringlich verloren sind.