Sind Parlamente nur noch Abnickvereine

Was geschieht, wenn eine hochkomplexe, hochbeschleunigte, hochvernetzte Welt und eine auf unentwegtes Wachstum ausgelegte Gesellschaft mitten in ihrem Lauf gestoppt werden? Alles kann passieren. Alles Mögliche. Und alles vorher Unmögliche. Dies hat uns das Frühjahr gelehrt, wo in kurzer Zeit viel entschieden und entschlossen gehandelt werden musste. Die Maßnahmen betrafen nicht nur viele Unternehmer, denen die Geschäftsgrundlage entzogen wurde, sondern auch verfassungsmäßige Grundrechte. Das war zwar nicht immer verhältnismäßig, im Großen und Ganzen sowie in der Kürze der Zeit aber gut, um einen schlimmeren Ausbruch der Pandemie erfolgreich zu verhindern. Nun passiert das Gleiche ein zweites mal innerhalb eines Jahres. Die Infektionszahlen schießen nach oben und die Regierungschefs in Bund und Ländern leiten aus den Erfahrungen des Frühjahrs das Gewohnheitsrecht ab, ein weiteres mal nahezu exakt so zu handeln. Die Situation ist aber eine fundamental andere.

Dass eine zweite Welle spätestens zum Herbst kommen würde, war common sense. Dennoch gab es weder nach den Sommerferien noch zum Ende der Herbstferien eine große, langfristige Strategie wie mit dem Virus umgegangen werden soll. Vielmehr schien man völlig überrascht, dass es im Oktober nun doch etwas kühler werden sollte und reagierte mit wildem Aktionismus sowie einer Vielzahl von Verordnungen. Weil die Vielzahl der unkonzertierten Aktionen nicht zum Erfolg führte, soll nun die Holterdipolterstrategie eines sogenannten Lockdown Light der Wellenbrecher werden. Und wieder versucht man erst Entscheidungen zu treffen und dann im Nachgang die dafür verfassungsmäßig demokratisch legitimierten Gremien einzubeziehen. Aus den Parlamenten Abnickvereine der Exekutive zu machen, zählt genauso zu den Ereignissen, die wir uns vor einem Jahr noch nicht hätten vorstellen können wie das zur Diskussion stellen der Unverletzbarkeit der Wohnung.

Natürlich wird von nahezu allen politischen Lagern und auch dem größten Teil der Gesellschaft die Notwendigkeit zum Handeln gesehen. Die Maßnahmen alternativlos zu nennen, ist allerdings anmaßend, arrogant, undemokratisch und wie die jüngsten Entscheidungen der Gerichte bestätigen, nicht selten rechtswidrig. Wenn zudem der Eindruck entsteht, dass Maßnahmen willkürlich, teilweise interessengetrieben, unverhältnismäßig und gegen die Empfehlungen vieler Mediziner und Wissenschaftler getroffen werden, verliert man das, was die Menschen im Frühjahr noch vereint hat: Akzeptanz und Vertrauen. Wenn nun zum Beispiel Gastronomen, die durch Investitionen in Hygienekonzepte, Lüftungsanlagen, und Freisitzmöglichkeiten Teil der Lösung sein wollten, zum Ursprung des Problems erklärt werden, ist das für die Betroffenen schwer zu ertragen.

Und bei allem Lamento über die Gegenwart fehlt die Antwort auf die nächste Frage: Was kommt eigentlich danach? Wollen wir nun Lockdown auf Lockdown folgen lassen oder sollte man sich auf wirksame regionale Maßnahmen verständigen, die verhältnismäßig, inhaltlich abgewogen und parlamentarisch legitimiert sind?

Ja, natürlich geht es in solchen Zeiten um Komplexitätsbewältigung und auch, um Gemeinsinnorientierung, denn unser Miteinander in der Krise zeigt, was jede einzelne Seele wert ist. Das Organisationsprinzip der Kooperation scheint das probate Mittel zur Lösung zu sein. „Der Mensch ist das Tier, dass Wir sagt“, stellte der amerikanische Anthropologe und Verhaltensvorscher Michael Tomasello fest. Der Mensch ist ein soziales Wesen und die Menschheit konnte nur deswegen ein Erfolgsmodell werden, weil sie die Fähigkeit besitzt sich eine gemeinsame Zukunft zu erträumen. Umso bedauerlicher, dass man ihr jetzt nichts mehr zutraut und ihr diese Kooperationskompetenz absprechen möchte. Das können wir besser.