An die Opfer denkt fast niemand

Robert Stauch, Vorstandsmitgied des FDP Stadtverbands Hanau und Geschäftsführer der Kreistagsfraktion, engagiert sich im Weissen Ring für Menschen, die Opfer von Straftaten geworden sind. In dieser Doppelfunktion war er auch Initiator des Prüfantrags der FDP Stadtverordnetenfraktion zur Traumaambulanz im Städtischen Klinikum Hanau. Gemeinsam mit Gudrun Midding, ebenfalls vom Weissen Ring, wurde er kürzlich zu seinem Engagement von Nicole Schmidt, von der Gelnhäuser Neuen Zeitung befragt.

Bericht und Fotos wurden freundlicherweise von der Autorin und der GNZ zur Verfügung gestellt.

Opfer sein. Schon die Begrifflichkeit verheißt nichts Gutes, impliziert Passivität, Hilflosigkeit. Und genauso fühlen sich Menschen, die Kriminalität erfahren mussten, nicht selten. Sexuelle Übergriffe oder gar eine Vergewaltigung, Einbrecher in den bis dahin sicher geglaubten vier Wänden, ein Raubüberfall auf offener Straße, all das macht etwas mit einem Menschen, und längst nicht nur die sichtbaren Verletzungen sind die, die wehtun. Die Konsequenzen einer solchen Tat reichen oft weit über diese selbst hinaus. Doch während nach einer Straftat zumeist die Täter im Mittelpunkt stehen, die Frage nach dem Strafmaß und nach der Motivation für die Tat, finden die Belange der Opfer oft kaum Beachtung, und eben das ist es, was der Weiße Ring ändern will. Der gemeinnützige Verein hilft Menschen, die Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden sind. Gudrun Midding und Robert Stauch engagieren sich beide seit mehreren Jahren ehrenamtlich beim Weißen Ring im Main-Kinzig-Kreis. Ein Gespräch über Opfer, Täter und die Bedeutung der eigenen Seelenhygiene.

Frau Midding, Herr Stauch, der Weiße Ring setzt sich schon seit 1976 für Opfer von Kriminalität ein. Sprechen wir heute insgesamt trotzdem noch zuviel über die Täter?

Beide (synchron): Ja.

Gudrun Midding: Ein ganz klares Ja, definitiv. Es ist doch so: Nach einer Straftat machen die Opfer ihre Aussage bei der Polizei, bekommen einen Opferentschädigungsantrag in die Hand gedrückt und das war‘s – dann stehen sie allein da, mit allem, was da an Folgen auf sie zukommt, finanzielle, genauso wie soziale und vor allem psychische. Und dann geht das Opfer vor die Tür und fragt sich: Ok, und was mach‘ ich jetzt?

Robert Stauch: Wenn alle den Täter jagen, wer kümmert sich um die Opfer? – Das war damals der Slogan, als der Weiße Ring ins Leben gerufen wurde. Und auch heute noch stehen meist nur die Täter im Mittelpunkt, in Prozessen wird ihre Kindheit durchleuchtet, das Motiv hinterfragt, das ganze Geschehen aufgerollt. Die Opfer sind nur Zeugen; der Frage, was mit ihnen passiert nach der Tat, wird nach wie vor zu wenig Beachtung geschenkt. Unser Ziel ist es, Menschen aus dieser Rolle herauszuhelfen, zu zeigen, dass sie eben nicht allein sind.

Was sind das denn hauptsächlich für Straftaten, nach denen Menschen den Weißen Ring aufsuchen und wie viele kommen im Jahr in etwa zu Ihnen?

Stauch: Da findet sich die ganze Bandbreite des Strafgesetzbuches, vom einfachen Diebstahl bis hin zu Mord und Totschlag. In der Mehrzahl der Fälle der letzten Zeit bei uns ging es um häusliche Gewalt und sexuelle Übergriffe. Insgesamt sind es etwa 120 bis 150 Fälle im Jahr, die wir aktenmäßig bearbeiten, vom Zeitaufwand jedoch kann das jeweils sehr unterschiedlich sein: Manchmal hat man nur ein Gespräch und ein bisschen Papierkram, der nach einer Stunde abgearbeitet ist, manchmal begleitet man jemanden zur Aussage bei der Polizei und dann noch vier Tage lang zu Gerichtsterminen.

Midding: Ich habe gerade einen Fall, der noch läuft, in dem es um Kindesmissbrauch geht. Da gab es schon eine polizeiliche Vernehmung, die alleine schon drei Stunden gedauert hat, ich habe regelmäßig Telefonkontakt mit der Familie, und wenn es zum Prozess kommen sollte und gewünscht wird, dass ich dorthin mitkomme, können da schon noch einige Stunden zusammenkommen. Unser Vorteil ist, dass wir das ehrenamtlich machen, deshalb haben wir kein festes Zeitbudget und deshalb dauert es eben so lange, wie es dauert. Und wenn wir der Ansicht sind, dass das Sinn macht und unser persönlicher Zeitrahmen es erlaubt, dann machen wir das.

Und wie haben sich die Fallzahlen in den letzten Jahren entwickelt? Spiegelt sich die vielzitierte Verrohung der Gesellschaft auch in Ihrer Arbeit wider?

Stauch: Die Wahrnehmung einiger Bürger, dass es immer schlimmer und krimineller zugeht, können wir in unserer Arbeit nicht bestätigen, im Großen und Ganzen sind die Zahlen in etwa gleich, wobei ich da natürlich nur für uns sprechen kann – ich weiß nicht, wie viele Menschen sich an die Hanauer Hilfe oder andere Einrichtungen wenden. Insofern ist das natürlich nur ein Ausschnitt.

Midding: Meiner Einschätzung nach sind die Sexualdelikte in den letzten fünf Jahren schon mehr geworden, wobei hier natürlich die Frage ist, ob es tatsächlich mehr Fälle gibt, oder nur mehr Anzeigen. Es werden ja nach wie vor weitaus mehr Wohnungseinbrüche oder Diebstähle angezeigt, als Vergewaltigungen, wir wissen aber, dass auf jede angezeigte Vergewaltigung mindestens 12, nach neueren Erhebungen sogar 19 nichtangezeigte Fälle kommen.

Wie kommt denn der Kontakt zwischen Ihnen und den Betroffenen zustande? Wie erfahren die von Ihrem Angebot?

Midding: Das ist unterschiedlich, oft werden sie von der Polizei auf Hilfsangebote hingewiesen, wenn sie Anzeige erstatten, da gibt es so ein Merkblatt, auf dem mehrere Hilfseinrichtungen aufgelistet sind. Viele suchen mittlerweile auch übers Internet nach Hilfe, andere fragen im Bekanntenkreis, wo sie sich hinwenden können.

Kommen Betroffene unmittelbar nach der Tat oder dauert das?

Stauch: Meist schon direkt danach, allerdings kommt es auch durchaus vor, dass die Tat schon Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegt. Zu uns kommen auch Menschen, die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden sind, aber jetzt erst darüber sprechen können. Die Gesellschaft ist offener, die Hilfsangebote sind besser, es gibt viel mehr Informationsmöglichkeiten, so dass sich manche erst jetzt trauen, das anzugehen.

Midding: Wenn Frauen zu uns kommen, die im Frauenhaus untergekommen sind, steht dahinter oft auch schon eine jahrelange Leidensgeschichte. Irgendwann kommt dann der Punkt, an dem es für die Betroffenen einfach nicht mehr auszuhalten ist.

Und mit welcher Erwartung kommen die Menschen zu Ihnen?

Stauch: Viele wollen erst einmal wissen, was zum Beispiel mit einer Anzeige überhaupt auf sie zukommen würde, von der Aussage bei der Polizei bis hin zur – öffentlichen – Gerichtsverhandlung. Die kennen die meisten ja nur aus dem Fernsehen. Wir können dann beraten und auch Begleitung und Unterstützung anbieten, ob sich jemand aber letztlich dafür entscheidet, liegt bei den Betroffenen selbst. Ich erinnere mich an eine junge Frau, die nach einer Vergewaltigung drei oder vier Anläufe gebraucht hat, bis sie ihre Aussage bei der Polizei machen konnte. Manche kommen aber einfach nicht über diese Schwelle, zu sagen, so, ich mache das jetzt! Das ist ein sehr schwieriges Thema, man darf da auch keinen Druck ausüben. Was mir wehtut sind dann Fälle sexuellen Missbrauchs, wo die Betroffenen keine Anzeige erstatten wollen und ich weiß, dass in der Familie noch weitere Kinder leben. Da ist man völlig machtlos.

Was können Sie denn überhaupt ganz konkret für die Opfer tun? Geht es da eher um menschlichen Beistand, Begleitung zu Behörden oder Unterstützung beim Ausfüllen von Formularen?

Midding: Das ist eine Mischung aus allem, zunächst geht es erst einmal darum, Betroffenen aufzuzeigen, welche Möglichkeiten sie überhaupt haben. Wir können menschlichen Beistand anbieten, aber auch die Begleitung zu Terminen bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht. Die Begleitung bei Gerichtsprozessen wird sehr oft gewünscht, wobei das nicht nur wir anbieten, sondern auch die Lawine oder die Hanauer Hilfe, mit denen wir eng zusammenarbeiten. Diese Netzwerkarbeit ist enorm wichtig, weil wir versuchen, das, was wir nicht leisten können, beispielsweise professionelle psychologische Betreuung durch einen Therapeuten oder Mediation, an die Kollegen zu vermitteln. Für unsere Klientel ist so ein Gerichtsverfahren meistens eine wirklich erschreckende Geschichte, wann hat man denn mal was mit dem Gericht zu tun? Je nach Prozess sind da unheimlich viele Leute anwesend, oder der Anwalt des Täters stellt intime Fragen, um das Opfer unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Viele sind dann einfach froh, jemanden an ihrer Seite zu wissen. Man macht ja eigentlich nichts, aber man ist da, kann vielleicht mal ein Tempo rüberreichen, schauen, wie es der Person geht, dem Gericht signalisieren, dass eine Pause gut wäre oder einfach jemand sein, bei dem man in der Pause mal zehn Minuten heulen kann.

Stauch: Hinzu kommt, dass wir als einzige Hilfeeinrichtung auch die Möglichkeit haben, finanzielle Hilfe zu leisten, wenn jemand durch eine Straftat in wirtschaftliche Not gerät. Vor ein, zwei Jahren war da zum Beispiel eine 70-Jährige in Hanau, der nach dem Besuch bei der Bank ihre Geldbörse gestohlen wurde – da war ihre komplette Rente drin. Sowas kommt gerade in der Weihnachtzeit recht häufig vor. Bis zu 300 Euro Soforthilfe können wir als Außenstelle auszahlen, da ist vielen schon mal wirklich geholfen. Auf Antrag können wir auch deutlich mehr auszahlen, wenn zum Beispiel jemand nach einer Vergewaltigung nicht mehr in der bisherigen Wohnung bleiben kann, aber schlicht nicht die Mittel für einen Umzug hat. Alleine in unserer Außenstelle haben wir in den letzten Jahren im Schnitt mehr als 10.000 Euro an Opferhilfe ausgezahlt.

Wie gehen Sie denn selbst mit dem Leid der Menschen um? Gibt es sowas wie Supervision für die Ehrenamtlichen?

Stauch: Es ist tatsächlich ganz wichtig, dass man so eine Art Seelenhygiene betreibt, damit man nicht selbst Schaden nimmt. Wir Ehrenamtlichen treffen uns einerseits regelmäßig und tauschen uns untereinander aus. Und dann gibt es auch die Möglichkeit der Supervision, in den Außenstellen Frankfurt und Offenbach wird das alle paar Wochen angeboten, da können wir uns einklinken oder aber beim Landesverband selbst Mittel dafür beantragen. Und natürlich werden unsere Ehrenamtlichen vorab mit Seminaren und Hospitationen auf ihre Aufgabe vorbereitet.

Midding: Es gibt Fälle, die wirklich an die Substanz gehen, gerade auch, wenn zum Beispiel jemand aus einer Gewaltsituation kommt und sich am Ende doch entscheidet, zurückzugehen. Aber wir machen ja auch regelmäßig Fortbildungen und dort bekommt man immer wieder gesagt, dass man den Menschen nur etwas raten, sie aber nicht zwingen kann, aus ihrer Lebenssituation herauszukommen. Und wenn ich das Gefühl habe, ich komme mit irgendetwas nicht klar, dann rufe ich einen Kollegen an. Es hilft, wenn man sich nochmal austauschen kann.

Was ist Ihre ganz persönliche Motivation, sich beim Weißen Ring zu engagieren?

Midding: Ich habe ein Ehrenamt gesucht, bei dem ich relativ flexibel agieren kann und bin dann über einen Zeitungsartikel auf den Weißen Ring und seine Arbeit gestoßen. Ich bin jetzt seit sechs Jahren dabei und habe nach wie vor das Gefühl, etwas sehr Wertvolles zu tun. Ich erfahre sehr viel Dankbarkeit.

Stauch: Ich war Polizeibeamter, da gibt es schon eine gewisse Nähe zu der Thematik. Und nach wie vor brauchen Opfer von Straftaten eine Lobby.

Welche Veränderungen müssten denn aus Ihrer Sicht seitens der Politik angestoßen werden, um besser auf die Belange von Kriminalitätsopfern eingehen zu können?

Stauch: Die Einrichtung einer Traumaambulanz in Hanau, die derzeit geprüft wird, halte ich für dringend notwendig. Ebenfalls wünschenswert wäre aus meiner Sicht eine Opferstiftung, wie es sie zum Beispiel in Bayern oder auf Bundesebene für Terroropfer gibt, die als Fonds Menschen in Not unterstützt. Und dann würden wir uns auch über ganz konkrete Unterstützung freuen: Von den 29 Kommunen im Main-Kinzig Kreis ist bislang nämlich nur eine einzige Mitglied beim Weißen Ring.

Midding: Ich betreue viele Opfer von Sexualdelikten und merke immer wieder, dass eine zeitnahe psychologische Betreuung dabei das A und O ist. Aber wenn die Betroffenen sich dann durchgerungen haben und bei drei, vier Therapeuten anrufen und hören, dass bestenfalls in einem Dreivierteljahr ein Therapieplatz frei wäre, entmutigt das natürlich ganz extrem. Privatpatienten bekommen übrigens schneller einen Termin. Es gibt einfach viel zu wenige Therapeuten.